Effekt und Affekt in der Informellen Malerei –

die Gemälde von Christine Jackob-Marks

SOIL – Galerie feinart Berlin

4. Juni 2023, Vortrag von Mark Gisbourne (deutschsprachige Fassung, gekürzt)


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Vor fast vierzig Jahren schrieb ich einen monografischen Essay über einen deutschen Informellen Maler, der stark von der Arbeit von Cy Twombly (1928-2011) beeinflusst war. Der 2017 verstorbene Künstler, dessen Name hier ungenannt bleiben soll, war einer der letzten lebenden Schüler von Willi Baumeister (1889-1955). Damit möchte ich nicht abschweifen, außer dass der Titel des 1989 im Kohlhammer Verlag erschienenen Buches Atmen und Malen lautet, und mir damals wie heute auffiel, dass dieser Titel ein perfektes Gleichnis für das ist, was man Informel Painting, Informelle Malerei nennt.

 

Warum wähle ich diese Beobachtung:

Um zu zeigen, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg eine strikte intellektuelle Dichotomie zwischen konzeptioneller Malerei sowie Design und abstrakter bis figurativer Tradition der Informellen Malerei gab. Und weil Christine Jackob-Marks definitiv eine Informelle Malerin ist – wenn auch manchmal abstrakt und manchmal figurativ, doch gestische Malerei, Field Painting, Tachismus, Stain Painting und viele andere subjektive Ansätze fallen unter die Definition von Informeller Kunst.

 

Was konkret bedeutet der Begriff „Informel Painting“:

Er ist nicht zu verwechseln mit einer bloßen Ungezwungenheit oder einem inoffiziellen Stil im Sinne des üblichen Wortgebrauchs. Vielmehr ist Informelle Malerei im Sinne einer Privilegierung des subjektiven Innenlebens, als ein vermeintlich inneres Ausdruckslebens des Malers, zu verstehen. Sagen wir vereinfacht: sie ist die visuelle Erweiterung und der expressive Sinn des emotionalen Seins des Malers.

Die Gemälde von Christine Jackob-Marks sind ein solcher Ausdruck des Seins, und dieses geht a priori ihrem gegebenen Thema voraus, ist zentral für die materiellen Mittel, durch die sie materialisiert werden.

Doch möchte ich auf den Kern zurückkommen, nämlich das Gleichnis als Metapher in den Begriffen Atmen und Malen und diese mit der im Titel meines Vortrags getroffenen Unterscheidung zwischen Effekt und Affekt, zwischen Wahrnehmung und Ausdruck verbinden: Ein Effekt ist eine wahrgenommene Erfahrung, während ein Affekt eine ausgedrückte Erfahrung ist.

Damit können wir beginnen, über die abstrakten, manchmal abstrahierten und figurativen Gemälden von Christine Jackob-Marks zu sprechen, über ihre eigene metaphorisch leere Leinwand: Atmen und Malen, persönliche Wahrnehmungen der Welt, beobachten, verinnerlichen – sozusagen einatmen – assimilieren und affektiv in den Malprozessen zum Ausdruck bringen. An diesem Punkt beginnt der Betrachter seinerseits, diese Prozesse zu sehen, wahrzunehmen – sie einzuatmen – und sein eigenes emotionales, affektives Urteil zu bilden.

Ich möchte die Idee des beschreibenden Abstands zwischen Wahrnehmung und Ausdruck bekräftigen. Monets Impression, Sonnenaufgang (1872) z. B. basiert auf einer Erfahrung von Wirkung – man denke an den Ausdruck „das hat mich beeindruckt”. Dies entspringt der persönlichen und subjektiven Interpretation einer in der Natur gesehenen Wirkung. Man weiß von Anfang an, dass es sich um die imaginäre Vision eines Künstlers zu einem Thema handelt, nicht um einen assimilierten Eindruck, sondern um eine selbstbewusste Vision eines bestimmten Themas. Selbstverständlich können diese Quellen auch aus der natürlichen Welt stammen, dann aber mit einer stärkeren Betonung des subjektiven Ausdrucks.

 

Zu den Bildern von Christine Jackob-Marks:

Ihre meisten Bilder sind entweder abstrakt oder abstrahiert – sowohl die Landschaften als auch ihre figurativen Motive, die Akte, die Tierstudien usw. Ich verwende das Wort Alchemie als Synonym für die Vorstellungskraft und die alchemistische Kraft der Verwandlung: das unedle Metall zu Gold – denn das ist es, was die Malerei tut: Sie verwandelt Materialien von geringem intrinsischen Handelswert (Leinwand, Tafel, Farben usw.) in extrinsischen Wert. Ebenso ist die Alchemie der Ursprung dessen, was später zur Chemie wurde. Dies bezieht sich auf den Apotheker in derselben historischen Zunft wie der Maler und der Arzt mit ihrem Schutzpatron (der Heilige Lukas), da sie alle Mörser und Stößel benutzen, um die materiellen Mittel bereitzustellen: das Zerkleinern von Kräutern für Medikamente, das Zermahlen von Pigmenten für Farben.

Die Beziehung der Alchemie zur Materialverschiebung ist von zentraler Bedeutung für die Herangehensweise von Christine Jackob-Marks an die eigentliche Faktur ihrer Gemälde (Faktur: die Qualität der Ausführung eines Gemäldes; der charakteristische Umgang des Künstlers mit der Farbe). Dies ist wichtig für die expressiven Tendenzen von Jackob-Marks und wurde zweifellos durch ihr Studium an der Berliner Hochschule der Künste (UdK) in den 1960er Jahren geprägt, indem der eigentliche Malprozess der sinnvollen Festlegung eines Themas in ihrem Werk vorausgeht.

Daher wäre es falsch, Jackob-Marks als kompositorische Malerin zu sehen, so als gäbe es einen vorgegebenen Entwurf, der anschließend ausgeführt oder ausgemalt wird. Sie ist eine malprozessorientierte Malerin. Ihre Bilder entstehen in erster Linie im Akt des Malens selbst. Ihr Gespür für eine lockere, expressive Pinselführung durch Faktur ist auf den Oberflächen ihrer Leinwände abstrahiert, da sie in den vergangenen sechzig Jahren ein intensives Vokabular persönlicher Zeichen entwickelt hat. Oder wie sie selbst es ausdrückt: „Ich bin eine emotionale Malerin, meine Bilder sind meine Gefühle. Die Farben müssen in Harmonie sein.”

Ihr Farbauftrag ist mit der emotionalen Farbe des geistigen Auges verbunden und weniger mit einer direkten Übertragung aus der natürlichen Welt. Der Begriff des geistigen Auges ist von den Anfängen der Romantik bis in die Gegenwart zu finden. Edmund Burkes „Theorie des Erhabenen“ (um 1757) ist eine effektive, imaginierte Umsetzung von Ehrfurcht und Staunen, Immanuel Kants „Erhabenheit“ (um 1790) ist affektiv und eine innere Vision, die in der Welt assimiliert und ausgedrückt wird – wie von Caspar David Friedrich (1774-1840) formuliert: „Der Maler soll nicht nur malen, was er vor sich hat, sondern auch, was er in sich selbst sieht. (…) Schließe dein leibliches Auge, damit du dein Bild zuerst mit dem Auge des Geistes sehen kannst.“ Man beachte, dass dies fast die Worte von Philipp Otto Runge (1777-1810) sein könnten: „Die Farbe ist das Höchste in der Kunst. Sie ist und bleibt uns immer ein Rätsel, wir können sie nur intuitiv erfassen…“.

Der deutsch-amerikanische Maler Hans Hofmann (1880-1966), der geistige Urvater der amerikanischen Bewegung des Abstrakten Expressionismus, brachte es auf den Punkt: „Das Kunstwerk ist eine Welt für sich, die den Sinn und die Gefühle der Welt des Künstlers widerspiegelt. (…) Der Maler spricht durch die Farbe und nicht durch Worte.” Dies ist ein Schlachtruf der expressiven Tradition der Informellen Malerei, die sich durch Farbe und Atelierpraxis artikuliert. Es ist ein Auftrag im doppelten Sinne: der materielle Auftrag von Farbe neben dem expressiven Auftrag des Machens.

Die Art und Weise, wie Christine Jackob-Marks Farbe einsetzt, ist das Maß ihrer Arbeit. Und die für die Ausstellung „SOIL“ ausgewählten Genres – Landschaften, Stillleben, halbabstrakte Bilder – sind durch eine eigene, einzigartige Sprache des malerischen Zeichens realisiert. Diese funktionieren durch dicke und dünne Farbaufträge mit dem Pinsel und anderen Mitteln, mit verschiedenen Farbtexturen, die manchmal scheinbar expressiv nass in nass aufgetragen werden.

Es ist Jackob-Marks‘ abstrakter Sinn für Farbsättigung, der am unmittelbarsten deutsch ist, d.h. Farben, die von der Welt durch das abstrahierte Prisma des geistigen Auges gefiltert werden – und was mitunter als „das Dritte Auge“ (Max Ernst) bezeichnet wird und eine Wahrnehmung ermöglicht, die über das gewöhnliche Sehen hinausgeht. Damit will ich nicht sagen, dass Christine Jackob-Marks eine Mystikerin mit einem zusätzlichen Auge ist oder dass ihre Bilder in irgendeiner Weise mystisch sind. Ich würde eher sagen, sie steht in der Tradition der deutschen Malerei, wenn auch nicht in der Tradition der Neoexpressionisten wie Georg Baselitz, Markus Lüpertz und anderen, die in den 1960er Jahren begannen. Denn Jackob-Marks‘ Gemälde sind nicht offensiv durchgesetzt, als Malerin hat sie in sechs Jahrzehnten eine nachhaltige Vision der persönlichen Darstellung vorangetrieben. In ihrer Informellen Malerei führt eine wahrgenommene Wirkung zu einem ausdrucksstarken Affekt.

Für das Atelier gibt es das Gleichnis, dass Atmen Malerei ist, die aus dem inneren Leben des Selbst schöpft. Max Beckmann (1884-1950) sagt es am besten: “Kunst ist schöpferisch um der Verwirklichung willen, nicht um des Vergnügens willen: um der Verklärung willen, nicht um des Spiels willen. Es ist die Suche nach unserem Selbst, die uns auf der ewigen und unendlichen Reise antreibt, die wir alle machen müssen.”

Ich danke Ihnen

 

Mark Gisbourne

(Kurator, Kunsthistoriker und Kunstkritiker)

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